Schon oft hab ich mich gewundert und geärgert über diesen Effekt, der das Fahren mit abgenudelten Reifen zum permanenten Ärgernis macht. Wo frische Pneu neutral und kräftefrei um Kurven laufen, muss ein an den Flanken abgeflachter Vorderpneu mit permanentem Gegendruck am kurveninneren Lenkerende in Schräglage gehalten werden.
Warum ist das so? Muss das so? Liegt da ein Fahler bei der Reifenkonstruktion vor oder hat es gar mit der Fahrwerksgeometrie des Motorrads zu tun? Lange beschäftigt mich diese Frage nun schon, aber irgendwie hatte ich nie die Geduld, mich mal ernsthaft damit auseinanderzusetzen. Sonst wäre ich auf des Rätsels Lösung zwangsläufig schon viel früher gekommen, weil sie ebenso einleuchtend ist wie sie auch auf der Hand liegt. Nur braucht es eben manchmal gewisse Schlüsselerlebnisse dazu, und ein solches hatte ich gestern.
Wollte an der Tanke Luft kontrollieren. Aber statt dass Luft rein ging, ging sie raus. Im Vertrauen auf die Funktionstüchtigkeit des Geräts nochmals angesetzt, und "pfffff..."! Das kann doch nicht sein! Und nochmals: "Pfffff..."! Am Ende war nur noch etwas über ein Bar im Vorderreifen, und ich musste noch zehn Kilometer bis zur nächsten Tanke fahren. Dabei hatte ich aber Gelegenheit, das Fahrverhalten bei stark vergrößerter Auflagefläche des Reifens zu studieren.
Und wie fuhr sich das Ding? Genau: In Kurven kaum haltbar, weil sich der Lenker mit aller Macht in die Kurve eindrehen wollte. Da musste mit viel Kraft gegengehalten werden. Und mit einem Schlag war mir klar - das ist die Lösung des Problems! Klar, warum bin ich da nicht viel früher drauf gekommen?! Der Erklärung mit der "Walkarbeit" des Reifens und der damit verbundenen Kraft, die in Schräglage "außermittig" angreift und somit ein Drehmoment um die Lenkachse erzeugt, hatte ich immer schon misstraut.
Betrachten wir mal den Reifenlatsch. Dieser ist ovalförmig und besitzt einen kurveninneren (A) und kurvenäußeren Punkt (B). Bedingt durch den deutlich kleineren Abstand des Punktes A von der (verlängert gedachten) Radachse in Schräglage legt dieser pro Radumdrehung einen viel kleineren Weg zurück als der Punkt B. (Annähernd) gleitreibungsfrei kann das aber nur realisiert werden, wenn sich das Rad während der Fahrt kurveneinwärts dreht. Jetzt kann man sagen, "das muss es doch auch!", aber der Effekt ist bei seitlich abgeflachtem Reifen (oder wenig Luftdruck) um ein Vielfaches größer als zum Ausgleich der unterschiedlichen Kurvenradien von A und B eigentlich nötig wäre.
In welchem Verhältnis die beiden Effekte zueinander stehen, kann man sich klar machen, wenn man an einen Kegel denkt, der über die Tischplatte rollt. Die Radachse ist die Kegelachse, die Reifenaufstandsfläche Tangentialebene an die Mantelfläche des Kegels. Bei dieser Bewegung bleibt die Kegelspitze in Ruhe; sie ist also der Punkt, um den sich der Reifen in die Kurve eigentlich eindrehen möchte, wenn er nicht durch eine entsprechende Gegenkraft am Lenker daran gehindert würde.
Auf Grund der überschaubaren geometrischen Verhältnisse beim Kegel kann dieser Punkt ganz einfach bestimmt werden. Am einfachsten geht ’s bei 30° Schräglage, dann befindet er sich gerade mal einen Raddurchmesser neben der Reifenaufstandsfläche. Wir sprechen hier von etwa 60 Zentimetern - im Gegensatz zu vielleicht 100 Metern Kurvenradius!
Damit nun das hierdurch vom Reifen in den Lenker eingeleitete Drehmoment möglichst gering ausfällt, muss der Hebelarm möglichst klein sein. Und der Hebelarm ist nicht etwa die Entfernung des Reifenaufstandspunktes (den es als solchen gar nicht gibt) von der Lenkachse, sondern die Distanz der beiden Punkte A und B, die Breite des Reifenlatsches also.
Was lernt man nun daraus?
Für ein einigermaßen fahrbares Motorrad braucht es einen Vorderreifen mit "rundem" oder "balligem" Querschnitt, der einen möglichst schmalen Latsch garantiert. Flache, schräg angewinkelte Flanken im bewährten V-förmigen Profil der Hinterreifen von Sportmotorrädern sind für den Vorderreifen absolut tabu! Um herabgesetzte Haftung des Reifens muss man sich dabei nicht in erster Linie Gedanken machen, denn schließlich steigt der Anpressdruck im gleichen Maße wie die Reifenaufstandsfläche abnimmt.
Und das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen: Mit zunehmender Laufleistung sollte der Luftdruck im Reifen langsam erhöht werden, damit die Handlichkeit in Schräglage nicht zu viel von ihren ursprünglichen Qualitäten einbüßt.
Mit frischen Pneu sind die Kräfte jedenfalls so gering, dass du freihändig Kurve fahren kannst. Da kannst du in Schräglage die Hände vom Lenker nehmen und das Ding bleibt in Schräglage.
Aber um so was zu verifizieren, braucht 's ein richtiges Motorrad. Nicht so wackliges Doppelschleifen-Gelumps ...
Zitat Für ein einigermaßen fahrbares Motorrad braucht es einen Vorderreifen mit "rundem" oder "balligem" Querschnitt, der einen möglichst schmalen Latsch garantiert. Flache, schräg angewinkelte Flanken im bewährten V-förmigen Profil der Hinterreifen von Sportmotorrädern sind für den Vorderreifen absolut tabu!
Ja, das weiß man aber spätestens seit dem Dunlop Triangel KR76.
Aber schön, dass du eine nachvollziehbare Begründung für das miese Fahrverhalten des BT45 lieferst, wenn dieser etwa seine Lebensmitte überschritten hat - und das geht vorne sehr schnell. Der TT ist da übrigens kaum, der Avon aber deutlich besser.
Zitat von Falcone im Beitrag #4Aber schön, dass du eine nachvollziehbare Begründung für das miese Fahrverhalten des BT45 lieferst, wenn dieser etwa seine Lebensmitte überschritten hat - und das geht vorne sehr schnell.
Genau bei diesem Reifen ist mir das zum ersten Mal aufgefallen. Später dann wieder beim Z4 (Metzeler). Bei der W hab ich mir dann irgendwann abgewöhnt, in Kurven hinein zu bremsen, und bei der RS hab ich (auch aus diesem Grund) das Integralbremssystem sehr geschätzt, wo bei leichtem Bremsen nur und bei stärkerem Bremsen zuerst die Hinterradbremse betätigt wird. Dadurch konnte der Flankenabrieb des vorderen Pneus sehr in Grenzen gehalten werden.
Das Dumme ist nur: Hat der erstmal angefangen, so verstärkt er sich selbst progressiv - ganz ohne Bremsen, allein durch die Schräglage und die nicht zueinander passenden Radien von effektiv gefahrener Kurve und oben angesprochenem Kegelrollkreis. Dadurch wird permanenter Schlupf erzeugt, der zwar der Reifentemperatur zu Gute kommt, aber den Abrieb gerade dort verstärkt, wo es am wenigsten sein soll.
Der balligste (Vorder-)Reifen, den ich je gefahren bin, ist übrigens dein "geliebter ()" Michelin Pilot Road 2/3. Im Neuzustand beinahe erschreckend handlich, gegen Ende seiner Lebensdauer aber speziell in Bezug auf das Thema dieses Freds einer der besten, wenn nicht sogar der beste, weil sich bei ihm die optimale Reifenkontur erst gegen Mitte der Laufleistung einstellt.
Damit verbunden auch sein von vielen Fahrern als "stark gewöhnungsbedürftig" empfundenes Kurvenverhalten: Werden "herkömmliche" Reifen nur und ausschließlich am kurveninneren Lenkerende gedrückt, um die Schräglage einzuleiten und für gewöhnlich auch zu halten (hallo Wännä! ), so zeigt der MPR ein inverses Verhalten. Erst muss er natürlich ebenfalls gedrückt werden, aber bereits beim Umlegen sollte das Drücken tunlichst einem Ziehen weichen, damit die Maschine nicht selbsttätig in die Kurve fällt. Das ist ja auch der Grund, Martin, warum du den Reifen ablehnst. Und auch der Grund, warum der Reifen die Fahrer in zwei Lager spaltet. Die einen lieben die Handlichkeit beim Einlenken und stören sich nicht am Abklappen, die anderen drücken lieber etwas fester am Lenker und haben dafür alles wie gewohnt unter Kontrolle.
Für Touren gibt es - finde ich - auch heute nichts Besseres als den Michelin, für sportliche Einlagen zwischendurch eignet er sich allerdings weniger.
Zitat von Serpel im Beitrag #3Mit frischen Pneu sind die Kräfte jedenfalls so gering, dass du freihändig Kurve fahren kannst. Da kannst du in Schräglage die Hände vom Lenker nehmen und das Ding bleibt in Schräglage. ...
Zweifelsohne,
vorrausgesetzt, der Fahrer verlagert seinen Schwerpunkt ein wenig in Richtung Kurveninneres.
Was ich nicht verstehe, wenn der Reifen flach abgefahren ist, fährt er doch in einer engen Kurve quasi "auf dem Kanten". Was ist denn dann mit dem Einlenkverhalten?
Zitat von Wännä im Beitrag #6vorrausgesetzt, der Fahrer verlagert seinen Schwerpunkt ein wenig in Richtung Kurveninneres.
Oder Richtung Kurvenäußeres, je nachdem, was für Reifen drauf sind und in welchem Zustand sie sich befinden (vgl. Ausführungen oben zu den MPR). Dazwischen befindet sich irgendwo der Idealfall, der nach dem Mittelwertsatz über stetige Funktionen () auch irgendwann mal angenommen wird. Die Vorstellung, dass ein Motorrad im Normalfall mit kräftigem Gegendruck am inneren Lenkerende in Schräglage gehalten werden müsste, ist jedenfalls eine falsche.
Zitat von Wännä im Beitrag #6Was ich nicht verstehe, wenn der Reifen flach abgefahren ist, fährt er doch in einer engen Kurve quasi "auf dem Kanten". Was ist denn dann mit dem Einlenkverhalten?
Die Kräfte beim Einlenken bleiben im ersten Moment die gleichen, weil es sich dabei in erster Linie um Kreiselkräfte handelt. Mit zunehmender Schräglage (bei Annäherung an den abgeflachten Bereich) reagiert die Fuhre dann allerdings kippelig und wenig zielgenau. In der Regel lenkt man mit abgefahrenen Reifen zu früh ein, egal wie sehr man sich auch vornimmt, es bei der nächsten Kurve besser zu machen.
Mehr als alles andere beim Motorradfahren hasse ich abgefahrene Reifen ...
Zitat Damit verbunden auch sein von vielen Fahrern als "stark gewöhnungsbedürftig" empfundenes Kurvenverhalten: Werden "herkömmliche" Reifen nur und ausschließlich am kurveninneren Lenkerende gedrückt, um die Schräglage einzuleiten und für gewöhnlich auch zu halten (hallo Wännä! ), so zeigt der MPR ein inverses Verhalten. Erst muss er natürlich ebenfalls gedrückt werden, aber bereits beim Umlegen sollte das Drücken tunlichst einem Ziehen weichen, damit die Maschine nicht selbsttätig in die Kurve fällt. Das ist ja auch der Grund, Martin, warum du den Reifen ablehnst. Und auch der Grund, warum der Reifen die Fahrer in zwei Lager spaltet. Die einen lieben die Handlichkeit beim Einlenken und stören sich nicht am Abklappen, die anderen drücken lieber etwas fester am Lenker und haben dafür alles wie gewohnt unter Kontrolle.
Wenn es denn so wäre. Bei der Guzzi - und nur für die kann ich da sprechen - kippte der bei schon erreichter ziemlich starker Schräglage plötzlich nochmals ein - und zwar völlig egal, wie weit der bereits abgefahren war. Da das plötzlich geschah, konnte man sich nur schwerlich drauf einstellen. Wäre es zu Beginn des Umlenkens so gewesen, wie du beschreibst, hätte man sich ja dran gewöhnen können.
Zitat Mehr als alles andere beim Motorradfahren hasse ich abgefahrene Reifen ...
Wobei ich auch da langsam zu dem Schluss kommen, dass sich das sowohl von Reifen zu Reifen als auch von Motorrad zu Motorrad unterscheidet. Mit den Contis auf der 990er SM ist der Unterschied zwischen altem und neuem Reifen erstaunlich gering - bei anderen Motorrädern ist das so eklatant, dass viele erst mal jubeln, was sie jetzt doch für einen tollen neuen Reifen erwischt haben - bis er wieder abgefahren ist. Deswegen beurteile ich einen Reifen immer erst dann abschließend, wenn ich ihn "durch" habe. Der Avon schneidet da bei der W übrigens gut ab.
Zitat Bei der Guzzi - und nur für die kann ich da sprechen - kippte der bei schon erreichter ziemlich starker Schräglage plötzlich nochmals ein - und zwar völlig egal, wie weit der bereits abgefahren war. Da das plötzlich geschah, konnte man sich nur schwerlich drauf einstellen. Wäre es zu Beginn des Umlenkens so gewesen, wie du beschreibst, hätte man sich ja dran gewöhnen können.
Ich glaube, wir meinen im Prinzip schon das gleiche. Ist halt erstens schwer, das genau zu analysieren und - zweitens - dann auch noch in Worte zu fassen. Klar ist jedenfalls, dass der Außenbereich des Profils (also wirklich "außen") kaum abgenutzt wird. Deswegen ändert das Fahrverhalten in diesem Bereich kaum. Nur der Weg dorthin wird über die Lebensdauer des Reifens immer schwieriger.
Zitat bei anderen Motorrädern ist das so eklatant, dass viele erst mal jubeln, was sie jetzt doch für einen tollen neuen Reifen erwischt haben - bis er wieder abgefahren ist.
Bei der BMW ist das beispielsweise so. Wobei ich nicht weiß, ob das am Telelever liegt oder an der Rahmengeometrie eines (Super-)Sportlers. Oder an beidem. Die Triumph gibt sich hier jedenfalls auch viel unempfindlicher.
von den Elektrorollern gibt es auch welche, die sog. Twins, die haben in beiden Rädern E-Motoren.
Da ich demnächst mit nem Kumpel auf Probefahrt gehe, werde ich mal versuchen, auf so ein Ding steigen zu können. Da müßte doch in richtig Schräglage (Mammi, ich hab Angst ) dann beim Gasgeben was ganz Ungewohntes passieren - nämlich der Roller in die Kurve kippen.
Keine Ahnung, ob das stimmt, vielleicht weiß ich es bald.
Zitat Am einfachsten geht ’s bei 30° Schräglage, dann befindet er sich gerade mal einen Raddurchmesser neben der Reifenaufstandsfläche. Wir sprechen hier von etwa 60 Zentimetern - im Gegensatz zu vielleicht 100 Metern Kurvenradius!
Der Herleitung ist genial. An sowas hab ich bei Motorrädern noch nie gedacht. Bei Reifen von Kinderspielzeugen kann man das Phänomen ja sogar beobachten.
Was mir Kopfzerbrechen bereitet, ist die quantitative Bestimmung der Kräfte bzw. Drehmomente. Nach geraumer Zeit des Nachdenkens habe ich jetzt schlicht aufgegeben.
Walkreibung, Gleitreibung, Haftreibung ? Würde man Haftreibung ansetzen, kämen vermutlich zu große Werte raus . . . .
Danke Wännä , hab mich hinterher gewundert, warum ich nicht schon längst drauf gekommen bin!
Zitat Würde man Haftreibung ansetzen, kämen vermutlich zu große Werte raus . . . .
Die größte Kraftübertragung zwischen Reifen und Fahrbahn gibt es ja erst bei erstaunlich hohem Schlupf. Also sind die wirksamen Kräfte wohl tatsächlich sehr hoch. Und das merkt man wie oben erwähnt bei Reifen mit zu wenig Luft (etwa 1 bar) recht extrem. Damit kann man zwar noch fahren, aber die Lenkkräfte übersteigen schnell mal (geschätzte) 100 Newton. Deswegen führt die wohl einzige Möglichkeit, einen fahrbaren Reifen zu konstruieren über einen möglichst schmalen Latsch.
der Roller meiner Doktorin fristet auch so ein etwas liebloses Dasein - besonders, was den Reifenluftdruck anbelangt. Ich habe neulich vorne 0,7 bar gemessen .
Da ging der Lenker schon deutlich schwerer beim Schieben und Wenden. Beim Fahren fiel auf, daß der Roller auf den schlechten Straßen unseres Kuhdorfes ziemlich wild jeder Schräge folgte und sich einfach nicht gut fuhr. Ist aber alles ziemlich subjektiv. Man läßt sowas ja auch nicht, sondern greift zur Luftpistole und setzt den Verdichter in Marsch.
Zitat von Falcone im Beitrag #4... Aber schön, dass du eine nachvollziehbare Begründung für das miese Fahrverhalten des BT45 lieferst, wenn dieser etwa seine Lebensmitte überschritten hat - und das geht vorne sehr schnell...
sehe ich nicht ganz so, Du gehörst wohl zu den jungen Wilden , dieses Prachtexemplar hat immerhin mehr als 11000 km auf dem Gummi, keine Auffälligkeiten, alles im grünen Bereich, bis auf Shimmy , bei "mit Gepäck", aber das hatten wir schon.
und @ Serpel:
Deine Lenkereindrehtheorie ist zweifelsfrei korrekt, nur bei solch einem Schmalreifen merkste nix davon, bis auf ebend Shimmy, bei Gepäck sogar in der Kurve:
Nicht nur bei Gepäck. Ab einer gewissen Schräglage schüttelt sich ein BT45 regelrecht, wenn er mehr als halb abgefahren ist. Das ist aber kein Shimmy mehr, zumal das bei steigendem Tempo zunimmt.
Die Breva mit den 17-Zöllern ist da übrigens weit weniger empfindlich als die W mit 19-Zoll.
Der BT kommt mir nicht mehr auf die W. Auf anderen Moppeds funktioniert er aber durchaus.